Maura Wyler-Zerboni (Text) Ueli Christoffel (Fotos)
«Wir sind in einer Krise. Ich weiss nicht, ob es schon jedem klar geworden ist.» Mit diesem Satz leitet Monika Schnitzer ihren Vortrag in der Aula der Universität Zürich ein. Die Vorsitzende des deutschen Sachverständigenrats zeichnet ein schonungsloses Bild der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Von Schwarzmalerei kann jedoch nicht die Rede sein. Für Schnitzer ist die Krise auch ein Katalysator, eine Chance für eine umfassende Erneuerung.
Seit 2019 stagniert die deutsche Wirtschaft. Industrieproduktion und Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe sind rückläufig, Unternehmensgründungen gehen drastisch zurück, Insolvenzen nehmen zu. Gleichzeitig bleibt der Arbeitsmarkt fragil: Der Fachkräftemangel hält an, doch neue Stellen entstehen kaum. Für Schnitzer steht fest: «Das ist keine konjunkturelle Delle – das ist strukturell.»
Auch um den Export – einst die starke Kraft der deutschen Wirtschaft –, ist es schlecht bestellt. Die sogenannte Exportelastizität hat sich in den letzten Jahren halbiert. Selbst wenn wichtige Handelspartner wachsen, steigen die deutschen Exporte nicht mehr im gleichen Ausmass wie früher. Die Gründe dafür sind vielfältig: hohe Energiepreise, steigende Arbeitskosten, vor allem aber mangelnde Attraktivität der Produkte. Besonders die Automobilbranche habe den Wechsel zu E-Mobilität verschlafen aber auch in anderen Bereichen hinke Deutschland in Innovationen hinterher, so Schnitzer.
Mit Blick auf Deutschlands wirtschaftliche Landkarte sieht Schnitzer neue Bewegungen. Regionen, die lange als Erfolgsgeschichten galten, stehen plötzlich unter Druck. Besonders betroffen seien laut Schnitzer jene Teile Süddeutschlands, die stark von der Automobilindustrie geprägt sind. Dort müssten sich ganze Wirtschaftsstrukturen neu erfinden und das in kurzer Zeit. Die Herausforderungen reichen von der Umstellung auf Elektromobilität über den Verlust globaler Marktanteile bis hin zu Fachkräftemangel und sinkender Wettbewerbsfähigkeit. In Ostdeutschland hingegen drohen laut Schnitzer anhaltende Entwicklungsrückstände. In vielen Regionen habe bereits in der Vergangenheit wenig Strukturwandel stattgefunden, bei gleichzeitig schwachem Beschäftigungswachstum. Nun droht ihnen, auch in der nächsten Transformationsphase abgehängt zu werden, ohne Anschluss an Zukunftsbranchen und ohne ausreichende wirtschaftliche Dynamik.
Bundeskanzler Friedrich Merz will die vielschichtigen Probleme mit einem strategischen Finanzpaket angehen, das Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro ermöglichen soll. Monika Schnitzer begrüsst grundsätzlich den Umfang und die Intention des Pakets, übt aber deutliche Kritik an der politischen Umsetzung: «Es reicht nicht, Geld bereitzustellen. Entscheidend ist, wie es ausgegeben wird.» Schnitzer kritisiert unter anderem die Ausweitung der Mütterrente und die Festschreibung des Rentenniveaus als kostspielige Massnahmen mit geringem ökonomischem Nutzen. Solche konsumtive Mittelverwendungen setzen kaum Wachstumsimpulse. Wird das Geld hingegen investiv eingesetzt, etwa im Bereich Forschung, Bildung oder Digitalisierung, kann das BIP langfristig um bis zu einem Prozent pro Jahr zusätzlich wachsen.
Für Schnitzer ist klar, dass Deutschland eine strategische Neuausrichtung braucht und dass dies einen realistischen Blick auf seine Abhängigkeiten voraussetzt. Das betrifft nicht nur den Zugang zu Rohstoffen, sondern auch technologische Souveränität, Verteidigungskapazitäten und digitale Infrastrukturen. Sie fordert eine europäisch koordinierte Industriepolitik, eine ehrliche Debatte über die Reform der Sozialversicherungssysteme, Bürokratieabbau und die Vermeidung von Gold-Plating, wie z.B. beim Lieferkettengesetz. Die wichtigste Einzelmassnahme? «Frühkindliche Bildung massiv ausbauen.»
Am Ende ihres Vortrags erinnert Schnitzer an Churchills berühmtes Zitat: «Never waste a good crisis.» Die aktuellen Umbrüche seien nicht nur Bedrohung, sondern auch Gelegenheit. Voraussetzung dafür sei allerdings politischer Mut und die Bereitschaft, auch ökonomisch unbequeme Entscheidungen zu treffen.
Maura Wyler-Zerboni (Text) Ueli Christoffel (Fotos)
«Wir sind in einer Krise. Ich weiss nicht, ob es schon jedem klar geworden ist.» Mit diesem Satz leitet Monika Schnitzer ihren Vortrag in der Aula der Universität Zürich ein. Die Vorsitzende des deutschen Sachverständigenrats zeichnet ein schonungsloses Bild der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Von Schwarzmalerei kann jedoch nicht die Rede sein. Für Schnitzer ist die Krise auch ein Katalysator, eine Chance für eine umfassende Erneuerung.


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Monika Schnitzer is Professor in Economics and holds the Chair for Comparative Economics at the Ludwig-Maximilians-University of Munich. Professor Schnitzer`s main research interests are innovation, competition policy and multinational firms. She is chairwoman of the German Council of Economic Experts (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – „Wirtschaftsweise“) since 2022 and council member since 2020.
Monika Schnitzer is Professor in Economics and holds the Chair for Comparative Economics at the Ludwig-Maximilians-University of Munich. Professor Schnitzer`s main research interests are innovation, competition policy and multinational firms. She is chairwoman of the German Council of Economic Experts (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – „Wirtschaftsweise“) since 2022 and council member since 2020.