Insights/Dialogue & Events
Demokratie und Rechtsstaat sind fragil – das gilt auch für unseren Wohlstand
Apr 2022

Gastkommentar Kaspar Villiger

Wir befinden uns in einer epochalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotismus, Rechtsstaat und Willkür, Freiheit und Zwang. Als kleines, exportorientiertes Land muss sich die Schweiz wappnen.

Kaspar Villiger gehörte von 1989 bis 2003 dem Schweizer Bundesrat an. Der Text ist ein Auszug aus seiner Rede am Podium des UBS Center for Economics in Society vom 7. April in Zürich zum Thema «Wirtschaftsstandort Schweiz – ein Erfolgsmodell in Gefahr?». Publiziert als Gastkommentar in der NZZ vom 13.4.2022

Unvermittelt dringt Kriegslärm bis an unsere Haustür, was uns erschrecken lässt. Eine Zeitenwende ist es nicht, aber eine schockartige Neubewertung der Zeiten. Nicht, dass wir nicht hätten wissen können, dass solches droht. Putin hat in Tschetschenien, in Syrien und auf der Krim geübt und aus seiner Einstellung nie ein Hehl gemacht.

Aber wir wollten die Zeichen nicht sehen, weil, hätten wir sie ernst genommen, einige politisch unangenehme Aufgaben hätten an die Hand genommen werden müssen. Wir konzentrierten unseren permanenten Empörungspegel lieber auf zu kurze Papizeiten, Gendersternchen oder mickrige Entschädigungen bei Flugverspätungen, während sich der 1989 verkündete Siegeszug der Demokratie fast unmerklich in sein Gegenteil zu verkehren begann.

Wir befinden uns in einer epochalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotismus, Rechtsstaat und Willkür, Freiheit und Zwang. Als kleines, exportorientiertes Land muss sich die Schweiz wappnen.

Kaspar Villiger gehörte von 1989 bis 2003 dem Schweizer Bundesrat an. Der Text ist ein Auszug aus seiner Rede am Podium des UBS Center for Economics in Society vom 7. April in Zürich zum Thema «Wirtschaftsstandort Schweiz – ein Erfolgsmodell in Gefahr?». Publiziert als Gastkommentar in der NZZ vom 13.4.2022

Unvermittelt dringt Kriegslärm bis an unsere Haustür, was uns erschrecken lässt. Eine Zeitenwende ist es nicht, aber eine schockartige Neubewertung der Zeiten. Nicht, dass wir nicht hätten wissen können, dass solches droht. Putin hat in Tschetschenien, in Syrien und auf der Krim geübt und aus seiner Einstellung nie ein Hehl gemacht.

Kaspar Villiger, Stiftungsratspräsident der UBS Foundation for Economics in Society
Kaspar Villiger, Stiftungsratspräsident der UBS Foundation for Economics in Society

Die drei Irrtümer

Die meisten von uns, auch ich, sind drei Irrtümern erlegen. Erstens glaubten wir seinerzeit nur zu gerne Fukuyamas Narrativ vom Ende der Geschichte. Zweitens stellte sich die These als falsch heraus, dass wirtschaftliche Verflechtung den Frieden sichere, und drittens führte mehr Bildung und Welterfahrung durch Globalisierung nicht zwingend dazu, dass alle Menschen sich nach mehr politischer Mitbestimmung sehnen.

Putin entfacht einen furchtbaren Krieg, Xi Jinping zieht die Repressionsschraube ohne spürbaren Widerstand im Volk systematisch an, und die dank Kapitalismus erfolgreiche Autokratie wird zum Vorbild für taumelnde defekte Demokratien.

Und doch: Die anschwellenden Flüchtlingsströme zieht es nicht nach Russland oder China, sondern in die westlichen Demokratien. Und die Ukrainer verteidigen ihre junge Demokratie mit einem Mut, den wir nur bewundern können. Uns, im Westen, wird plötzlich der Wert, aber auch die Fragilität von Demokratie und Rechtsstaat wieder bewusst, und das Zusammenstehen der westlichen Demokratien in diesem Krieg ist eindrücklich.

Niemand weiss, wie es enden wird. Francis Fukuyama denkt, Russland werde den Krieg verlieren und damit der Demokratie zu einem Revival verhelfen, und Niall Ferguson befürchtet, Inflation, Benzinpreise und Flüchtlingsströme könnten die so schöne Harmonie des Westens rasch erodieren lassen und damit Potentaten im Nahen und Fernen Osten ermutigen, ihrerseits neue Feuer zu entfachen.

Wie immer es auch kommen wird, eines ist sicher: Wir befinden uns in einer epochalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotismus, Rechtsstaat und Willkür, Freiheit und Zwang, Recht und Macht. Wir alle, die auf der Seite von Demokratie und Rechtsstaat stehen, sind gefordert. Auch wir Schweizerinnen und Schweizer. Neutralität kann es in dieser schicksalhaften Auseinandersetzung nicht geben.

Die meisten von uns, auch ich, sind drei Irrtümern erlegen. Erstens glaubten wir seinerzeit nur zu gerne Fukuyamas Narrativ vom Ende der Geschichte. Zweitens stellte sich die These als falsch heraus, dass wirtschaftliche Verflechtung den Frieden sichere, und drittens führte mehr Bildung und Welterfahrung durch Globalisierung nicht zwingend dazu, dass alle Menschen sich nach mehr politischer Mitbestimmung sehnen.

Putin entfacht einen furchtbaren Krieg, Xi Jinping zieht die Repressionsschraube ohne spürbaren Widerstand im Volk systematisch an, und die dank Kapitalismus erfolgreiche Autokratie wird zum Vorbild für taumelnde defekte Demokratien.

Besitzstände sind nie gesichert

In einer komplizierten Welt, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert, geht es der Schweiz – trotz dem permanenten politischen Hintergrundlärm der Berufsempörten – noch immer hervorragend. Ob Lebensstandard, Lebenserwartung, soziale Ausgeglichenheit, demokratische Mitspracherechte, makroökonomische Kennziffern oder Standortqualität: In allen Bereichen marschiert sie in der globalen Spitzengruppe.

Das ist das Resultat einer bisher freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie der harten Arbeit von Generationen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass Besitzstände auf dieser Welt nie gesichert sind. Eine kleine, weltoffene Exportnation wie die Schweiz kann ihren überdurchschnittlichen Wohlstand nur erhalten, wenn sie besser als andere ist und sich immer wieder anzupassen versteht.

Einiges deutet darauf hin, dass die Schweiz vor Herausforderungen steht, die von breiten Kreisen unterschätzt werden, und dies schon unabhängig vom derzeitigen Krieg. Wachsender Protektionismus sowie die Entstehung regionaler Freihandelsräume zulasten multilateraler Handelsregeln erhöhen für den unabhängigen, exportorientierten Kleinstaat das Risiko, zwischen Stuhl und Bank zu fallen.

Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und China erschweren es, aussenwirtschaftlich auf beiden Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Die grössten Wirtschaftsnationen, die sich in vielen Fragen spinnefeind sind, tun sich zusammen, um lästigen kleinen Konkurrenten ihre komparativen Vorteile zu beschneiden.

Unser hindernisfreier Zugang zum wichtigsten Kunden, der EU, ist nicht mehr gesichert. Innenpolitisch harren zentrale Fragen einer nachhaltigen Lösung, etwa die Altersvorsorge und die Stromversorgung. Finanzdisziplin, ein wichtiger Erfolgsfaktor, wird zunehmend als lästig empfunden. Politische Polarisierung führt bei jedem Reformvorschlag sofort zu erbittertem Widerstand.

Weil es uns so lange schon so gut geht, wird der Wohlstand zunehmend als gottgegeben wahrgenommen. Und als ob alles das noch nicht genügte, wird uns der Ukraine-Krieg längerfristig vor Herausforderungen stellen, deren Ausmass wir noch gar nicht voll ermessen können. Es ist an der Zeit, den Reformstau aufzubrechen, wenn die Schweiz nicht ihre Zukunftsfähigkeit schleichend gefährden will.

In einer komplizierten Welt, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert, geht es der Schweiz – trotz dem permanenten politischen Hintergrundlärm der Berufsempörten – noch immer hervorragend. Ob Lebensstandard, Lebenserwartung, soziale Ausgeglichenheit, demokratische Mitspracherechte, makroökonomische Kennziffern oder Standortqualität: In allen Bereichen marschiert sie in der globalen Spitzengruppe.

Das ist das Resultat einer bisher freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie der harten Arbeit von Generationen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass Besitzstände auf dieser Welt nie gesichert sind. Eine kleine, weltoffene Exportnation wie die Schweiz kann ihren überdurchschnittlichen Wohlstand nur erhalten, wenn sie besser als andere ist und sich immer wieder anzupassen versteht.

Zitate

Wir befinden uns in einer epochalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotismus, Rechtsstaat und Willkür, Freiheit und Zwang, Recht und Macht.
Eine kleine weltoffene Exportnation wie die Schweiz kann ihren überdurchschnittlichen Wohlstand nur erhalten, wenn sie besser als andere ist und sich immer wieder neu zu erfinden weiss, sich immer wieder anzupassen versteht.
Man muss zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterscheiden. Die eigenständige Verteidigung eines Kleinstaates kann heute nicht mehr sichergestellt werden. Das führt dazu, dass wir uns überlegen müssen, wie wir mit Neutralität umgehen wollen.

Autor

Chairman of the Foundation Board of the UBS Center for Economics in Society, former Swiss Finance Minister and President of Switzerland
Dr. h.c. Kaspar Villiger

Kaspar Villiger is a Swiss businessman, politician and former member of the Swiss Federal Council (1989 – 2003), serving first as Minister of Defence and then as Minister of Finance. He was President of the Confederation twice, in 1995 and again in 2002. On April 15, 2009, he was elected Chairman of the Board of UBS, holding this post until May 3, 2012. Villiger is a member of the Global Leadership Foundation, an organization which works to promote good governance around the world. In 2012 he became Chairman of the new UBS Foundation of Economics in Society.

Chairman of the Foundation Board of the UBS Center for Economics in Society, former Swiss Finance Minister and President of Switzerland
Dr. h.c. Kaspar Villiger

Kaspar Villiger is a Swiss businessman, politician and former member of the Swiss Federal Council (1989 – 2003), serving first as Minister of Defence and then as Minister of Finance. He was President of the Confederation twice, in 1995 and again in 2002. On April 15, 2009, he was elected Chairman of the Board of UBS, holding this post until May 3, 2012. Villiger is a member of the Global Leadership Foundation, an organization which works to promote good governance around the world. In 2012 he became Chairman of the new UBS Foundation of Economics in Society.