Wer hat Angst vor hohen Löhnen?
Aug 2021

Wer hat Angst vor hohen Löhnen?

Eine höhere Lohnsumme kann für eine Volkswirtschaft immer dann segensreich sein, wenn sie zum Ansporn für mehr Produktivitätswachstum und Innovation wird. Ein Kommentar von Joachim Voth.

Dieser Artikel wurde ursprünglich publiziert in der «Finanz und Wirtschaft» vom 6. April 2021. Für Layoutzwecke bearbeitet vom UBS Center.

Ein hohes Gehalt – toll! Wer möchte nicht grosszügig für seine Arbeit entschädigt werden? Je höher das Einkommen, desto eher kann man sich den Wunsch nach dem neuen Auto, der besseren Wohnung, dem schönen Abendessen erfüllen. Doch halt – wer zahlt eigentlich dafür? Der Lohn des einen sind die Kosten des anderen; die Gehälter der Angestellten sind die Ausgaben des Unternehmens, dessen Gewinn nun geringer ausfällt. Eine weit verbreitete Ansicht sagt deshalb: Immer halblang, mit den hohen Löhnen kann man es auch übertreiben. Spätestens, wenn die Gewinne der Unternehmen so sehr unter Druck geraten, dass sich Investitionen nicht mehr rechnen, droht der schöne Geldsegen schwere Schlagschatten zu werfen – weniger Investitionen bedeuten schliesslich weniger Wachstum, vielleicht sogar Arbeitsplatzverluste, wenn die Produktion in andere, billigere Orte verlegt wird. So sollte denn auch relativ bald Schluss mit lustig sein und Lohnzurückhaltung von den Arbeitnehmern eingefordert werden.

Ein ganzer Schwung neuerer Forschungsergebnisse stellt genau diese Logik in Frage. Was sich in theoretischen Modellen schnell herleiten lässt – hohe Löhne führen zu niedriger Beschäftigung, beispielsweise – scheint in der Realität nicht ganz richtig zu sein. Schon vor zwanzig Jahren nutzten amerikanische Arbeitsmarktökonomen die zeitversetzte Einführung von Mindestlöhnen in verschiedenen Bundesstaaten, um zu zeigen, dass Erhöhungen fast immer ohne Wirkung bleiben. Dabei sahen sie sich vor allem die mit besonders viel Arbeitern im Mindestlohnbereich produzierenden Branchen wie die Fastfoodgastronomie an. Wenn man bis an die Grenze zweier Bundesstaaten geht und Städte auf gegenüberliegenden Seiten dieser Grenze vergleicht, dann zeigt sich bei der Entwicklung des Beschäftigungsvolumens nach der Erhöhung des Mindestlohns auf einer Seite so gut wie kein differenzieller Effekt. Auf jeden Fall gibt es keinen rapiden Rückgang der Beschäftigung dort, wo die Löhne durch Regulierung angehoben wurden.

Eine höhere Lohnsumme kann für eine Volkswirtschaft immer dann segensreich sein, wenn sie zum Ansporn für mehr Produktivitätswachstum und Innovation wird. Ein Kommentar von Joachim Voth.

Dieser Artikel wurde ursprünglich publiziert in der «Finanz und Wirtschaft» vom 6. April 2021. Für Layoutzwecke bearbeitet vom UBS Center.

Ein hohes Gehalt – toll! Wer möchte nicht grosszügig für seine Arbeit entschädigt werden? Je höher das Einkommen, desto eher kann man sich den Wunsch nach dem neuen Auto, der besseren Wohnung, dem schönen Abendessen erfüllen. Doch halt – wer zahlt eigentlich dafür? Der Lohn des einen sind die Kosten des anderen; die Gehälter der Angestellten sind die Ausgaben des Unternehmens, dessen Gewinn nun geringer ausfällt. Eine weit verbreitete Ansicht sagt deshalb: Immer halblang, mit den hohen Löhnen kann man es auch übertreiben. Spätestens, wenn die Gewinne der Unternehmen so sehr unter Druck geraten, dass sich Investitionen nicht mehr rechnen, droht der schöne Geldsegen schwere Schlagschatten zu werfen – weniger Investitionen bedeuten schliesslich weniger Wachstum, vielleicht sogar Arbeitsplatzverluste, wenn die Produktion in andere, billigere Orte verlegt wird. So sollte denn auch relativ bald Schluss mit lustig sein und Lohnzurückhaltung von den Arbeitnehmern eingefordert werden.

Joachim Voth, UBS Foundation Professor of Macroeconomics and Financial Markets
Joachim Voth, UBS Foundation Professor of Macroeconomics and Financial Markets

Unternehmen haben oft Marktmacht

Der ehemalige Präsident Ronald Reagan scherzte einmal, ein Ökonom sei jemand, der sehe, wie etwas praktisch funktioniert und anschliessend erst mal frage, ob es denn auch theoretisch funktionieren könne. Warum sind die Arbeitsmarktfolgen weniger verheerend als ursprünglich angenommen? In den meisten Modellen der Ökonomen ist der Wettbewerb unter den Unternehmen hart; es bleibt kaum Marge übrig. Doch in der Realität haben viele Unternehmen zumindest eine gute Portion «Marktmacht» – sie geben ihre Produkte nicht zum Kostenpreis plus Mini-Marge für die Kapitalgeber ab, sondern mit einer guten Menge Gewinn obendrauf. Dieser Gewinn wird durch die höheren Löhne zwar geschmälert, doch nicht so sehr, dass Investitionen leiden würden. So widerspricht die empirische Evidenz den zu einfachen Einsichten der Kreideökonomie. Allerdings sind dem Prozess natürliche Grenzen gesetzt. Irgendwann kommt es zu den vorhergesagten Folgen, nur nicht so schnell, wie befürchtet; den Mindestlohn in den USA auf 100 $ pro Stunde hochzusetzen, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit fatal.

Es gibt noch einen zweiten, deutlich interessanteren Grund, warum moderne Volkswirtschaften höhere Löhne weniger fürchten sollten. Wo die Arbeitnehmer knapp sind und Arbeit entsprechend teuer ist, gibt es mehr Innovationen und es wird mehr in arbeitssparende Ausrüstung investiert. Ist der Lohn zu gering, lohnt sich zum Beispiel die Einführung eines automatisierten Parkkontrollsystems in Parkhäusern nicht; stattdessen sitzen Angestellte hinter der Glasscheibe, nehmen Papiertickets entgegen und atmen Autoabgase ein. Sind die Löhne ausreichend hoch, verschwinden diese Stellen.

Der Wirtschaftshistoriker Robert C. Allen argumentiert beispielsweise, dass sich seinerzeit England zuerst industrialisierte, weil dort die Löhne besonders hoch waren – nur dort konnte man die neuen Erfindungen wie die automatisierten Webstühle und Baumwollspinnereien gewinnbringend einsetzen. Eine Studie mit nordamerikanischen Daten zeigt diesen Zusammenhang systematisch. Seit in den Siebzigerjahren die (zumeist illegale) Einwanderung in den USA aus Mittelamerika zugenommen hat, haben die Löhne zu stagnieren begonnen. Dies war besonders in denjenigen Bundesstaaten der Fall, die besonders viele Einwanderer anzogen. Um Effekte von der Nachfrageseite auszuschliessen, sahen sich die Wissenschaftler die Veränderung der Migrationsbevölkerung an, die sich durch bereits vor 1970 existierende Familienbande vorhersagen liess. Überall dort, wo mehr Einwanderer zum Arbeitsmarkt dazukamen (aus Gründen, die nichts mit der Nachfrage nach Arbeit zu tun hatten) waren die arbeitssparenden Investitionen in der Industrie geringer. Entsprechend schwächer fiel das Wachstum der Produktivität aus.

Dafür waren gleich zwei Kanäle verantwortlich. Erstens wurde in jedem Industriesektor weniger investiert, um Arbeit einzusparen. Zweitens wuchsen die «falschen» Sektoren; statt durchrationalisierter Fabriken, in denen Arbeiter hohe Löhne erarbeiteten, wuchs die Beschäftigung in relativ unproduktiven Sektoren wie der Gastronomie und der Gartenpflege. Auch anderswo bietet sich das gleiche Bild: Als beispielsweise in Louisiana nach einer verheerenden Flut viele Landarbeiter flohen, wurde anschliessend massiv in neue Traktoren investiert. Im Schweden des 19. Jahrhunderts wurden überall dort mehr Pferde in der Landwirtschaft angeschafft, wo besonders viele Menschen nach Übersee abgewandert waren.

Der ehemalige Präsident Ronald Reagan scherzte einmal, ein Ökonom sei jemand, der sehe, wie etwas praktisch funktioniert und anschliessend erst mal frage, ob es denn auch theoretisch funktionieren könne. Warum sind die Arbeitsmarktfolgen weniger verheerend als ursprünglich angenommen? In den meisten Modellen der Ökonomen ist der Wettbewerb unter den Unternehmen hart; es bleibt kaum Marge übrig. Doch in der Realität haben viele Unternehmen zumindest eine gute Portion «Marktmacht» – sie geben ihre Produkte nicht zum Kostenpreis plus Mini-Marge für die Kapitalgeber ab, sondern mit einer guten Menge Gewinn obendrauf. Dieser Gewinn wird durch die höheren Löhne zwar geschmälert, doch nicht so sehr, dass Investitionen leiden würden. So widerspricht die empirische Evidenz den zu einfachen Einsichten der Kreideökonomie. Allerdings sind dem Prozess natürliche Grenzen gesetzt. Irgendwann kommt es zu den vorhergesagten Folgen, nur nicht so schnell, wie befürchtet; den Mindestlohn in den USA auf 100 $ pro Stunde hochzusetzen, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit fatal.

Es gibt noch einen zweiten, deutlich interessanteren Grund, warum moderne Volkswirtschaften höhere Löhne weniger fürchten sollten. Wo die Arbeitnehmer knapp sind und Arbeit entsprechend teuer ist, gibt es mehr Innovationen und es wird mehr in arbeitssparende Ausrüstung investiert. Ist der Lohn zu gering, lohnt sich zum Beispiel die Einführung eines automatisierten Parkkontrollsystems in Parkhäusern nicht; stattdessen sitzen Angestellte hinter der Glasscheibe, nehmen Papiertickets entgegen und atmen Autoabgase ein. Sind die Löhne ausreichend hoch, verschwinden diese Stellen.

Höhere Löhne schaffen Anreize

Doch der unerwartete Segen hoher Löhne reicht noch über das Durchrationalisieren der Fabriken und die Anschaffung neuer Maschinen hinaus: Er betrifft das eigentliche Herzstück des kapitalistischen Wirtschaftssystems – die Innovation. Wo ein Produktionsfaktor teuer ist, richtet sich besonders viel kreative Energie auf die Frage, wie man mit dem knappen Gut vorsichtiger, klüger und sparsamer umgehen kann, so auch beim Faktor Arbeit. Als die USA in den Sechzigerjahren ein Gastarbeiterprogramm für mexikanische Erntehelfer beendeten, schnellte der Lohn für Arbeit in der Landwirtschaft schnell nach oben. Gleichzeitig zog die Geschwindigkeit in der Vergabe von Patenten für neue Maschinen und Prozesse, die in der Landwirtschaft Arbeit einsparen sollen, rapide an. Das aber bedeutet, dass höhere Löhne auch den Innovationsprozess beschleunigen, weil sie Anreize für die Anschaffung neuer Maschinen liefern, und je mehr diese verwendet werden, desto besser werden sie im Regelfall.

Hohe Löhne hatten unter Ökonomen lange keinen guten Ruf. Zusammen mit «Praktikern» wie Eigentümern und Managern galt lange das Mantra «Mass halten, sonst sind volkswirtschaftliche Schäden programmiert». Der deutsche Ökonom Knut Borchardt argumentierte sogar, dass der Untergang der Weimarer Republik in der Zwischenkriegszeit zum Teil überhöhten Löhnen geschuldet sei. Die empirische Evidenz, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten angesammelt hat, deutet jedoch in die entgegengesetzte Richtung. So sehr sich der einzelne Arbeitgeber über die kurzfristigen Folgen für die Gewinne ärgern mag, so segensreich kann eine höhere Lohnsumme für die Volkswirtschaft immer dann sein, wenn sie zum Ansporn für mehr Produktivitätswachstum und Innovation wird.

Doch der unerwartete Segen hoher Löhne reicht noch über das Durchrationalisieren der Fabriken und die Anschaffung neuer Maschinen hinaus: Er betrifft das eigentliche Herzstück des kapitalistischen Wirtschaftssystems – die Innovation. Wo ein Produktionsfaktor teuer ist, richtet sich besonders viel kreative Energie auf die Frage, wie man mit dem knappen Gut vorsichtiger, klüger und sparsamer umgehen kann, so auch beim Faktor Arbeit. Als die USA in den Sechzigerjahren ein Gastarbeiterprogramm für mexikanische Erntehelfer beendeten, schnellte der Lohn für Arbeit in der Landwirtschaft schnell nach oben. Gleichzeitig zog die Geschwindigkeit in der Vergabe von Patenten für neue Maschinen und Prozesse, die in der Landwirtschaft Arbeit einsparen sollen, rapide an. Das aber bedeutet, dass höhere Löhne auch den Innovationsprozess beschleunigen, weil sie Anreize für die Anschaffung neuer Maschinen liefern, und je mehr diese verwendet werden, desto besser werden sie im Regelfall.

Hohe Löhne hatten unter Ökonomen lange keinen guten Ruf. Zusammen mit «Praktikern» wie Eigentümern und Managern galt lange das Mantra «Mass halten, sonst sind volkswirtschaftliche Schäden programmiert». Der deutsche Ökonom Knut Borchardt argumentierte sogar, dass der Untergang der Weimarer Republik in der Zwischenkriegszeit zum Teil überhöhten Löhnen geschuldet sei. Die empirische Evidenz, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten angesammelt hat, deutet jedoch in die entgegengesetzte Richtung. So sehr sich der einzelne Arbeitgeber über die kurzfristigen Folgen für die Gewinne ärgern mag, so segensreich kann eine höhere Lohnsumme für die Volkswirtschaft immer dann sein, wenn sie zum Ansporn für mehr Produktivitätswachstum und Innovation wird.

Zitat

Ist der Lohn zu gering, lohnt sich die Einführung eines automatisierten Parkkontrollsystems in Parkhäusern nicht; stattdessen sitzen Angestellte hinter der Glasscheibe, nehmen Papiertickets entgegen und atmen Abgase ein.
Joachim Voth

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UBS Foundation Professor of Macroeconomics and Financial Markets

Joachim Voth received his PhD from Oxford in 1996. He works on financial crises, long-run growth, as well as on the origins of political extremism. He has examined public debt dynamics and bank lending to the first serial defaulter in history, analysed risk-taking behaviour by lenders as a result of personal shocks, and the investor performance during speculative bubbles. Joachim has also examined the deep historical roots of anti-Semitism, showing that the same cities where pogroms occurred in the Middle Age also persecuted Jews more in the 1930s; he has analyzed the extent to which schooling can create radical racial stereotypes over the long run, and how dense social networks (“social capital”) facilitated the spread of the Nazi party. In his work on long-run growth, he has investigated the effects of fertility restriction, the role of warfare, and the importance of state capacity. Joachim has published more than 80 academic articles and 3 academic books, 5 trade books and more than 50 newspaper columns, op-eds and book reviews. His research has been highlighted in The Economist, the Financial Times, the Wall Street Journal, the Guardian, El Pais, Vanguardia, La Repubblica, the Frankfurter Allgemeine, NZZ, der Standard, der Spiegel, CNN, RTN, Swiss and German TV and radio.

UBS Foundation Professor of Macroeconomics and Financial Markets

Joachim Voth received his PhD from Oxford in 1996. He works on financial crises, long-run growth, as well as on the origins of political extremism. He has examined public debt dynamics and bank lending to the first serial defaulter in history, analysed risk-taking behaviour by lenders as a result of personal shocks, and the investor performance during speculative bubbles. Joachim has also examined the deep historical roots of anti-Semitism, showing that the same cities where pogroms occurred in the Middle Age also persecuted Jews more in the 1930s; he has analyzed the extent to which schooling can create radical racial stereotypes over the long run, and how dense social networks (“social capital”) facilitated the spread of the Nazi party. In his work on long-run growth, he has investigated the effects of fertility restriction, the role of warfare, and the importance of state capacity. Joachim has published more than 80 academic articles and 3 academic books, 5 trade books and more than 50 newspaper columns, op-eds and book reviews. His research has been highlighted in The Economist, the Financial Times, the Wall Street Journal, the Guardian, El Pais, Vanguardia, La Repubblica, the Frankfurter Allgemeine, NZZ, der Standard, der Spiegel, CNN, RTN, Swiss and German TV and radio.